- Religion im Zeitalter des Hellenismus
- Religion im Zeitalter des HellenismusHellenismus bezeichnet hier den Zeitabschnitt, der mit der makedonischen Herrschaft über Griechenland, mit Alexander dem Großen, beginnt und mit dem Aufkommen des römischen Kaiserkultes endet - er reicht also ungefähr bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung. Die Menschen in hellenistischer Zeit setzten die Verehrung ihrer traditionellen Götter in der überlieferten Weise fort, doch ergaben sich auch viele Veränderungen. Manche hatten schon in klassischer Zeit begonnen, bevor Alexander der Große das persische Reich erobert hatte und Griechen angefangen hatten, Städte auch in weit entfernten Gebieten, etwa in Afghanistan, zu gründen. Ein Ergebnis der Herrschaft Alexanders waren schließlich mehrere mächtige Einzelstaaten; daneben funktionierten aber die Städte weiterhin und mit ihnen das traditionelle System der Polisreligion. Andererseits aber bewegten die Griechen sich jetzt nicht mehr nur in ihrer geschlossenen Poliswelt, sondern in einer weiten Umwelt, wo man unbeengt von einer Stadt in die nächste ziehen konnte - statt nur als Teil eines Kollektivs haben sich die Griechen nun wahrscheinlich stärker als Individuen erfahren. Im religiösen Bereich berührten diese Veränderungen die Art, wie man die Herrscher, die Götter, die Städte und auch sich selbst sah.Die Nachfolger Alexanders des Großen waren unerhört mächtiger und vermögender, als man es in Griechenland jemals zuvor erlebt hatte. Die Griechen reagierten auf diese Eindrücke mit einer Veränderung des religiösen Verhaltens: Sie begannen, diese Herrscher nach und nach wie Götter zu verehren; aber ganz haben sie sie den Göttern nie angeglichen. Wir wissen nichts davon, dass die Griechen etwa in Krisenzeiten zu ihren Herrschern gebetet hätten, und sie stellten kaum einmal die Statue eines Königs in die Cella eines öffentlichen Tempels. Die Herrscher selbst haben sich jedoch bemüht, die kultische Verehrung ihrer Person zu fördern. Die Macht des Königs war selbstverständlich die Grundlage dieser relativ begrenzten kultischen Verehrung, nicht jedoch ihre direkte Ursache. Zahlreiche Inschriften belegen, dass Herrscherkult Ausdruck von Hochachtung und Dankbarkeit war, den die Städte als Antwort auf immens große finanzielle Zuwendungen den Königen entgegenbrachten.Das plötzliche Auftauchen der hellenistischen Könige auf der politischen Bühne beeinflusste auch das Bild von den traditionellen Göttern. Selbstverständlich konnten diese nicht als weniger mächtig eingeschätzt werden als jene Sterblichen, sodass geringere Göttergestalten und viele Heroen langsam aus der göttlichen Szene verschwanden. Populär wurden Götter, die mit Kriegsglück und der Sicherheit der Städte zu tun hatten und in neu gestifteten Festen mit großer Beteiligung gefeiert wurden. Dies ist wohl charakteristisch für Zeiten häufiger Kriege. Auch fasste man die Götter nun autokratischer und distanzierter auf als zuvor. Dieser Prozess führte dazu, dass die Gläubigen sich ihre Götter als ihre Herren vorstellten und sich selbst als deren Sklaven oder Diener. Vor den Göttern niederzuknien wurde nun üblicher wie auch das Singen von Preisliedern zu Ehren der Lieblingsgötter. Alle diese Elemente tauchen im frühen. Christentum wieder auf, das in vielen Aspekten eine typisch hellenistische Religion ist.Die Suche nach Göttern, die in bedrückenden Lebenslagen wirklich Hilfe und Beistand bieten konnten, führte zum Aufkommen von heilenden und weniger distanzierten Göttern. Asklepios, den wir auch als Äskulap kennen, und Amphiaraos wurden sehr populär, wobei ersterer bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. offiziell in das römische Pantheon aufgenommen wurde.Panund die Nymphen stiegen auf. Andere Götter erreichten weitere Verbreitung durch die Propaganda ihrer Priester und Anhänger: Dies gilt etwa für Isis und Sarapis. Zusammenfassend muss man sagen, dass das Pantheon größtenteils griechisch blieb und dass sogar die gerade erwähnten ägyptischen Götter eine weitgehend griechische Prägung erhielten.In hellenistischer Zeit vollzog sich ein weiterer eigentümlicher Vorgang: Neuartige abstrakte Vorstellungen stiegen viel mehr als früher in den Rang von Göttern auf; im öffentlichen Bereich war dies etwa Homonoia, »die Eintracht, Harmonie«, und im privaten Tyche, »das Glück, Schicksal«. Die abstrakten Konzepte besaßen nicht den Nachteil, mit Geschichten über Lebens- und Liebesverhältnisse der Götter verknüpft zu werden, die die hellenistischen Philosophen so vehement attackierten. Philosophenschulen wie die Stoa hielten nichts mehr von dem Glauben an die traditionellen Götter, sondern bevorzugten abstraktere Vorstellungen von einer einzigen Gottheit - Vorstellungen, die dann die Theologie der Juden in hellenistischer Zeit mit ihrer Betonung des Monotheismus stark beeinflussen sollten. Und obwohl es den traditionellen Göttern gelang, ihre kultische Rolle zu behalten, hat ihr Ansehen doch sehr unter dem philosophischen Diskurs gelitten.Die religiösen Riten veränderten sich kaum in dieser Zeit; nur Prozessionen erhielten mehr Gewicht als zuvor. Die Organisatoren einer Prozession und die Stifter, die dafür bezahlt hatten, werden oft in Inschriften erwähnt. Eine solche Prozession begann normalerweise im politischen Zentrum, auf dem Marktplatz der Polis, und führte zu dem Altar der jeweils zuständigen Gottheit. Die ganze Stadt ging im Prozessionszug mit, angeführt von den Beamten. Diese Selbstdarstellung der Polis in all ihrer Macht und Pracht wird dazu gedient haben, die Polisgemeinschaft, deren Fortbestand in den andauernden Kriegen zwischen hellenistischen Herrschern immer bedroht war, ihrer bleibenden Bedeutung zu versichern. So präsentierte sich die Polis einerseits als ein Ganzes, andererseits aber schufen Bürger sich vermehrt eigene religiöse Vereine, die »thíasoi«. Ausgesprochen populär waren die »Dionysos-Vereine«, die intern gepflegte Mysterien begingen und sich um angemessene Bestattung ihrer Mitglieder kümmerten. In einer Athener Gruppe beispielsweise wurde den Mitgliedern ein Kranz für den Toten und Wein für die Besucher der Trauerfeier bereitgestellt, um so ihr Gelingen sicherzustellen. Dies ist ein ganz typisches Beispiel. Die inschriftlichen Zeugnisse dieser Vereine erwähnen allerdings selten Wiedergeburt im dionysischen Sinne oder die Segnungen im Jenseits. Dafür interessierte sich im antiken Griechenland immer nur eine kleine Minderheit.Diese »Privatisierung« der Religion verstärkte sich in hellenistischer Zeit; manche Leute hinterließen in ihrem Testament sogar Geld für private Stiftungen, die ihrem Namen durch ein persönliches Heiligtum Dauer verleihen sollten; der reich ausgestattete heilige Bezirk des Artemidoros auf Thera, der heutigen Insel Santorin, ist ein gutes Beispiel dafür. Platon protestierte gegen Magier und gegen reisende Mysterienpriester, die Totenbeschwörung betrieben. Diese Kombination verblüfft uns, weil wir heute Magie von Religion streng trennen, doch für das spätklassische und hellenistische Griechenland gilt diese Trennung nicht. Papyri zeigen, dass es durchaus üblich war, Mysterienriten in magische Rituale einzugliedern, und Magie nannte man sogar Mysterien. Die Magie ist also ursprünglich nicht als ein eigener Bereich des Religiösen angesehen worden. Die frühen Texte zeigen, wie weit solche Praktiken verbreitet waren. Erst im Lauf des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurden sie mit den Riten von Zauberpriestern aus Medien und Persien, den »mágoi«, identifiziert (von denen einige sich wohl in Griechenland aufgehalten haben) und daher »Magie« genannt.Prof. Dr. Jan N. BremmerBremmer, Jan: Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland. Autorisierte Übersetzung von Kai Brodersen. Darmstadt 1996.Bruit Zaidman, Louise und Schmitt Pantel, Pauline: Die Religion der Griechen. Kult und Mythos. Aus dem Französischen übertragen von Andreas Wittenburg. München 1994.Simon, Erika: Die Götter der Griechen. München 31985.
Universal-Lexikon. 2012.